Projekte Technik

WKW Gösgen geht mit modernster Leittechnik in eine neue Ära7 min read

16. März 2020, Lesedauer: 5 min

WKW Gösgen geht mit modernster Leittechnik in eine neue Ära7 min read

Lesedauer: 5 Minuten

Sauberen Strom für rund 70.000 Haushalte produziert das Schweizer Traditionskraftwerk Gösgen, das zwischen 1997 und 2000 vollständig erneuert wurde.

In den vergangenen vier Jahren erfolgte nun ein weiterer Modernisierungsschritt: Die  gesamte Leittechnik des leistungsstarken Aare-Kraftwerks wurde durch den E-Technik-Spezialisten Rittmeyer ausgetauscht und damit auf den neuesten Stand der Technik gebracht. Das bedeutet einerseits eine Vereinfachung der Prozessbedienung und anderseits auch eine Verbesserung bei der Störungsdiagnose. Gerade im Hinblick auf die künftigen komplexen Herausforderungen für die Wasserkraft ein unabdingbarer Schritt für das Laufwasserkraftwerk der Alpiq.

Der Bezirk Gösgen im Kanton Solothurn steht im Ruf, ein echter Energie-Knotenpunkt zu sein. Das liegt nicht nur am bekannten Kernkraftwerk, sondern auch am traditionsreichen Wasserkraftwerk Gösgen. Das Kraftwerk liefert im Regeljahr rund 300 GWh, genug um 70.000 Schweizer Haushalte zu versorgen. Es gilt nicht nur als eine der leistungsstärksten Anlagen an der Aare, sondern war darüber hinaus – als es 1917 in Betrieb genommen wurde – das größte Kraftwerk der Schweiz. Zwischen 1997 und 2000 erneuerte Alpiq das Kraftwerk umfassend, so dass die fünf Maschinengruppen im Zentralengebäude bei annähernd gleicher Wassermenge und gleichem Gefälle um rund 12 Prozent mehr Strom erzeugen als zuvor. Das Kraftwerk, das sich im Grenzbereich der beiden Kantone Aargau und Solothurn befindet, ist auf eine Ausbauwassermenge von 380 m3/s ausgelegt, bei einer nutzbaren Fallhöhe zwischen 13,1 und 17,4 m. Die fünf installierten Kaplanturbinen kommen in Summe auf eine Engpassleistung von 48,5 MW. Das der Aare entnommene Triebwasser fließt dem Maschinenhaus über einen 4,8 km langen Oberwasserkanal zu, die Restwasserstrecke ist circa 8,4 km lang.

Alte Leittechnik nicht mehr zeitgemäß
Erst kürzlich hatte Alpiq bereits um eine vorzeitige Erneuerung der Konzession des Kraftwerks für die nächsten 70 Jahre angesucht. Die Vorzeichen dafür stehen gut, allerdings sind mit der Neukonzessionierung auch Anpassungen hinsichtlich Ökologie, Hochwasser- und Erdbebensicherheit verknüpft. So soll etwa am markanten Wehr Winznau der Wehroberbau ersatzlos abgebrochen und die Pfeiler verstärkt werden. Zudem werden die Restwassermengen deutlich angehoben und andere ökologische Ausgleichsmaßnahmen an der Aare realisiert. Um das Kraftwerk zukunftsfit für die zunehmend komplexer werdenden Anforderungen in der Wasserkraft zu machen, wurde bereits vor einigen Jahren ein wichtiger Schritt gesetzt: Alpiq beschloss, die komplette Leittechnik des Kraftwerks auszutauschen – und zwar sukzessive. Über die Dauer von vier Jahren sollte das beauftragte Unternehmen, die Rittmeyer AG aus Baar, eine umfassende Modernisierung in die Wege leiten. Die alten Anlagenkomponenten, noch auf SAT-Basis ausgeführt, waren unverkennbar in die Jahre gekommen. „Die leittechnischen Anlagen hatten ein Alter erreicht, das in den kommenden Jahren einerseits eine deutliche Abnahme der Zuverlässigkeit erwarten ließ und andererseits die Instandhaltung der Anlagen durch zunehmende Schwierigkeiten bei der Ersatzteilbeschaffung erheblich beeinträchtigen würde“, erklärt dazu der Projektleiter von Alpiq Hydro Aare, André Hodel. „Die alten Systemkomponenten der prozessnahen Leittechnik und des Wartenleitsystems sowie die Netzwerkkomponenten sind vom Lieferanten abgekündigt und nur noch eingeschränkt verfügbar.“ Es war naheliegend, das ganze System auf neue Beine zu stellen.

2 redundante Server mit 5 Clients installiert
2014 begann das Team der Fa. Rittmeyer mit der leittechnischen Erneuerung diverser Anlagenteile: So wurden etwa die redundante Wasserhaushaltsautomatik, bestehend aus Pegelregelung mit Störgrößenaufschaltung, die Abflussverteilung von Kraftwerk und Wehr, sowie die Ansteuerung der Wehrfeldregulierung erneuert. Außerdem realisierte man eine Modernisierung an den Nebenanlagen, indem die Steuerung des Kühlwassers und jene der Rechenreinigung ersetzt wurden. Darüber hinaus wurde die Schaltanlagensteuerung, konkret die Eigenbedarfs-   verteilung sowie die Ansteuerung des Not-i stromdieselaggregats, getauscht und die Maschinensteuerung, inklusive Turbinenregler und mechanisch-thermischem Schutz für die fünf installierten Maschinengruppen – allesamt doppelt-regulierte Kaplanturbinen – erneuert. Auf der Ebene des Wartenleitsystems wurden redundante Server mit insgesamt fünf Clients installiert. Der Ersatz der übergeordneten Leittechnik in der Leitwarte erfolgte als erster Arbeitsschritt des gesamten Modernisierungsprozesses. Gemäß den Vorgaben eines sehr genau mit dem Kunden     erarbeiteten Ausführungspflichtenheftes begann man mit dem Einsetzen der Rittmeyer-­Server und -Clients und dem Einbinden sämtlicher SAT-Systeme über einen redundanten Protokollkonverter, schließlich verwenden SAT-Systeme nicht das gleiche Kommunikationsprotokoll wie Rittmeyer Leit-i technik. „Diese Maßnahme brachte den Vorteil mit sich, dass sich das Betriebspersonal schon einmal an das neue Wartenleitsystem gewöhnen konnte, ohne dass bereits funktionelle Anpassungen in der Automatisierungs­ebenen passiert waren“, so Reto Hasler.

Produktionsverluste minimiert
Danach folgte in regelmäßigen Abständen der Umbauphasen der Ersatz der Leittechniken an den einzelnen Maschinengruppen, sowie der Tausch der Leittechnik von Nebenanlagen, Schaltanlagen und des Wasserhaushaltsreglers. Taktgeber für die zeitliche Abfolge war dabei in erster Linie der Wasserstand: Jene Zeitfenster, in denen die Aare sehr wenig Wasser führte, wurden zwischen 2014 und 2018 konsequent für den Umbau der Maschinengruppen genutzt. Dies stellte durchaus eine Herausforderung für die erfahrenen Techniker von Rittmeyer dar. „Die Herausforderung lag darin, den Umbau mit möglichst geringem Produktionsverlust für den Betreiber umzusetzen. Die Adaptierung von Anlagenteilen, wie dem redundanten Wasserhaushaltsregler, der Kühlwassersteuerung oder der Schaltanlagensteuerung mussten im laufenden Betrieb erfolgen. Der Umstieg vom alten zum neuen System musste ohne Unterbruch erfolgen. Das alte und das neue System wurden dabei über einen Protokollkonverter miteinander verbunden. Dies ermöglichte einen Datenaustausch und einen Parallelbetrieb der Systeme bis zur kompletten Ablösung durch Rittmeyer- Technik“, so der Projektleiter. Garanten für den Projekterfolg waren zum einen das große Know-how der Techniker und Programmierer in den Reihen der Firma Rittmeyer, zum anderen aber auch die bewährten Systemkomponenten des Schweizer Branchenspezialisten. So kamen das RITOP Prozessleitsystem mit der RIFLEX M1 Automatisierungseinheit auf Prozessebene zum Einsatz – Systeme, die grundsätzlich viel Spielraum für zukünftige Anpassungen und Erweiterungen lassen.

Ausgelegt für allfällige Erweiterungen
Die neue moderne Leittechnik stellt nicht nur im Hinblick auf die Verfügbarkeit der Anlage eine Optimierung dar, sie bringt darüber hinaus auch effektive Vorteile in der Prozess-    bedienung. Dank einer übersichtlichen ­Visualisierung und einer durchdachten Programmarchitektur wird dem Betriebspersonal die Bedienung vereinfacht. Störungssuche und Diagnosemöglichkeiten sind deutlich verbessert. Reto Hasler: „Die schon mehrfach erfolgreich eingesetzten Module für die Wasserhaushaltsregulierung, Maschinensteuerung und Turbinenregler erlauben dem Kunden eine noch bessere Parametriermöglichkeit, um das Kraftwerk bei jeder Wasserführung optimal und nach seinen Bedürfnissen zu betreiben. Die Lösungen sind so aufgebaut, dass sie jederzeit erweitert werden können, um zukünftige Herausforderungen in der Wasserkraft zu lösen.“ Ein Beispiel dafür ist die im Jahr 2018 am Kraftwerksstandort Gösgen installierte Power-to-Heat-Anlage (P2H), die ebenfalls in das Kraftwerksleitsystem eingebunden wurde. Mit der Anlage, die unter ­anderem auch Prozessdampf erzeugt, kann Alpiq auf dem Strom-Systemdienstleistungsmarkt negative Regelleistung anbieten. Und dies, ohne die Pegelgrenzwerte im Oberwasserkanal zu gefährden.

Überzeugendes Umbaukonzept
Rittmeyer hat mit den neuen Lösungen ein Gesamtsystem inklusive dem elektrischen Turbinenregler aus einer Hand geliefert und konnte mit seinem Umbaukonzept den Betreiber des Kraftwerks von Beginn an überzeugen. „Wir schlugen vor, die Schaltschränke mit externer Verkabelung zu übernehmen. Dadurch konnten sämtliche Kabelverbindungen mit allen Anschlüssen an den Klemmen belassen werden. Große Zeitaufwände für die Entfernung und den Wiederanschluss der Kabel entfielen, zudem wurde eine erhebliche Fehlerquelle für Falschanschlüsse eliminiert. Damit war eine schnelle Wiederinbetriebnahme der Maschinengruppen möglich, und die Stillstandszeiten und somit auch der Produktionsausfall konnten auf ein absolutes Minimum begrenzt werden“, so Reto Hasler.
Besonders großes Augenmerk wurde auf den Austausch der Wasserhaushaltsregulierung gelegt. Bereits in der Planungsphase wurde die Zug-um-Zug-Ablösung intensiv mit dem Betreiber diskutiert. Dadurch gelang ein reibungsloser Übergang von der alten zur neuen Wasserhaushaltsregulierung. Ein unbemannter Nachtbetrieb konnte während der gesamten Projektphase eingehalten werden.

Training am „digitalen Zwilling“
Bedingt durch den hohen Automatisierungsgrad der Wasserhaushaltsregulierung und der Maschinensteuerung sind Eingriffe von Hand durch das Betriebspersonal immer weniger vonnöten. Damit das Personal aber dennoch auf einem hohen Kenntnisstand für die Bedienungs- und Prozessabläufe der Kraftwerksanlagen gehalten werden kann, hat sich Alpiq entschieden, einen Trainingssimulator durch Rittmeyer liefern zu lassen. Die Trainingsumgebung weist dieselbe Bedienoberfläche wie das reelle System (RITOP) auf. Im Hintergrund werden die Maschinengruppen, Wehrfelder und auch der gesamte Stauraum in Echtzeit simuliert. Im „Trockentraining“ können unterschiedliche Szenarien, wie etwa Maschinenstörungen, Hochwasser oder starke Zuflussschwankungen, simuliert und vom zu schulenden Betriebspersonal bewältigt werden. Hasler: „Dabei lässt sich sehr effizient testen, wie und ob ein Schüler die gestellte Aufgabe zu lösen imstande ist. Ob er beispielsweise genügend Geduld hat, um die langsamen Wellenbewegungen im Oberwasser richtig einzuschätzen? Das Trainieren derartiger Aufgaben hilft letztlich dem Betriebspersonal, in einem echten Störungsfall richtig zu reagieren.“ Mitte 2018 wurde als letzter Anlagenteil die Maschinengruppe 5 in Betrieb genommen. Derzeit sind noch kleinere Anpassungen, Rest- und Zusatzarbeiten im Gange, die bis Ende 2019 abgeschlossen werden. „Damit arbeitet das Traditionskraftwerk Gösgen heute auf dem modernsten Stand der Technik und ist absolut zukunftsfit für die Herausforderungen der nächsten Jahre und Jahrzehnte“, resümiert André Hodel.

Teilen: