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Kraftwerk Muldestausee ermöglicht Ökostromproduktion am ehemaligen Braunkohletagebau8 min read

2. Mai 2022, Lesedauer: 6 min

Kraftwerk Muldestausee ermöglicht Ökostromproduktion am ehemaligen Braunkohletagebau8 min read

Lesedauer: 6 Minuten

Seit Anfang letzten Jahres liefert das neue Wasserkraftwerk am Muldestausee im ostdeutschen Bundesland Sachsen-Anhalt Ökostrom.

Zur Stromgewinnung nutzt die Anlage zwei horizontalachsige Kaplan-Turbinen in Pit-Ausführung von der Small Hydro Divison von Voith Hydro mit einer Engpassleistung von 1.471 kW. Als Konsortialpartner von VOITH Hydro war die ­SCHUBERT Elektroanlagen GmbH für die Ausführung der Kraftwerks-Leittechnik zuständig. Die Automatisierungsspezialisten sorgten für die Steuerung der gesamten Kraftwerksanlage inklusive der Anbindungen an den Netzbetreiber, den Direktvermarkter und die zentrale Leitwarte des Betreibers. Im Regeljahr wird das Kraftwerk Muldestausee den Strombedarf von rund 4.000 durchschnittlichen Haushalten mit nachhaltig erzeugter Energie abdecken.

 

Mit der Flutung eines ehemaligen Braunkohletagebaus im Landkreis Anhalt-Bitterfeld in Sachsen-Anhalt entstand zwischen 1975 und 1976 der insgesamt 135,5 Millionen m³ fassende Mulde­stausee. Rund 20 Jahre später wurden erste Konzepte zum Bau eines Wasserkraftwerks an der Stauanlage erstellt. Das Bauvorhaben entwickelte sich aus einer Potentialanalyse des Bundeslandes in den 1990er-Jahren, bei der geeignete Standorte zur Erzeugung von grünem Strom geprüft wurden. 2001 folgte die nächste Potentialstudie von der Energieagentur Sachsen-Anhalt, bei der insgesamt acht geeignete Standorte an Talsperren in Sachsen-Anhalt identifiziert wurden. Nach einer Aktualisierung der Studie und einer Kosten-Nutzen-Analyse verblieben fünf Stand­orte, wobei der Muldestausee mit einer nutzbaren Fallhöhe von rund 5 m den vielversprechendsten Stromertrag in Aussicht stellte. In Auftrag gegeben wurde die Errichtung des Kraftwerks schließlich von der Tal­sperren­-Wasserkraft Sachsen-Anhalt GmbH­ (TSW)­, die für den Bau, den Betrieb und die Nutzung von Wasserkraftpotentialen an Talsperren im Bundesland zuständig ist.

Komplexes Projekt
Im Hinblick auf den behördlichen Genehmigungsprozess weist Mario Gödicke, Geschäftsführer der TSW, auf das Für und Wider des Projeks hin: „Dem Nutzen technischer Anlagen stehen auch weniger positive Aspekte gegenüber. Das spiegelte sich im Genehmigungsverfahren, in der Dauer und in der Komplexität des Projekts am Muldestausee wider. Hilfreich waren dabei vor allem die vollständigen und guten Planunterlagen, der offene Dialog mit den Projektgegnern sowie verständliche und zielgerichtete Information über das Bauvorhaben.“ In ökologischer Hinsicht wurden mehrere Ausgleichsmaßnahmen umgesetzt. Dazu zählten die obligatorische Herstellung von Fischaufstiegs- und -abstiegsanlagen und der Einbau eines Fischschutzrechens am Kraftwerkseinlauf. Zusätzlich wurden drei Auentümpel im Umfeld des Wasserkraftwerks geschaffen und schutzbedürftige Pflanzen aus dem Baufeld versetzt.

Zahlreiche Herausforderungen
Errichtet wurde die Wasserkraftanlage mit zwei Turbinen inklusive Fischauf- und -abstieg am Auslaufbauwerk des Muldestausees. Das Bauvorhaben erstreckte sich von Oktober 2016 bis ins zweite Quartal 2021 und war mit einer ganzen Reihe von Herausforderungen verbunden. Zeitliche Verzögerungen ergaben sich unter anderem aus der anspruchsvollen Beschaffenheit des Baugrunds. Der Ausbruch der Corona-Pandemie und die damit einhergehenden Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen verlängerte die Inbetriebnahmephase erheblich. Zusätzlich musste das Los für die Elektrotechnik während des laufenden Projekts aufgrund von Umfirmierungen des Auftragnehmers neu ausgeschrieben werden. Die Bauarbeiten wurden von verschiedenen Firmen der Jaeger Gruppe Bernburg durchgeführt, für die Umsetzung wurde eine ARGE aus mehreren rechtlich und wirtschaftlich selbstständigen Unternehmen gegründet. Da das Bauvorhaben ein Unikat darstellte und nur sehr wenige Erfahrungen aus ähnlich gearteten Projekten vorlagen, stellte die Realisierung eine sehr große Herausforderung dar. Die wesentliche Aufgabe der Projektleitung der ARGE bestand in der Erstellung der Bauablaufpläne und der Steuerung der vielfältigen und ineinandergreifenden Prozesse und Abläufe. Zu den bedeutsamsten Tätigkeiten zählten laut Jaeger Bernburg unter anderem die Herstellung von wasserdichten Baugrubenumschließungen aus über 500 t Spundwänden mit Längen von bis zu 23 m einschließlich Gurtungen und drei Lagen Ankern. Die Errichtung des Krafthauses und der Fischauf- und -abstiegsanlagen erforderte in Summe über 150 Bau- und Betonierabschnitte, welche durch die Absenkbrunnen zur Sohldruckentspannung erschwert wurden. Das Krafthaus hat inklusive Turbinen-Ein- und -auslauf eine Gesamtlänge von 60 m. In der Höhe misst das Maschinengebäude insgesamt 16 m, davon sind nach der Fertigstellung allerdings nur mehr 5 m oberhalb der Geländekante sichtbar. Der als Vertical-Slot-Pass realisierte Fischaufstieg hat eine Länge von insgesamt 260 m und wurde aus Platzgründen fünffach gewendelt ausgeführt. Durch insgesamt 48 Becken mit Abmessungen von jeweils 3,6 x 2,4 m überwinden die Gewässerbewohner einen Höhenunterschied von bis zu  5,8 m zwischen Ober- und Unterwasserbereich. Im Fischabstieg wurde ein Drehtor mit drei Öffnungen installiert, das gleichzeitig zur Abfuhr von Treibgut und Geschwemmsel ins Unterwasser dient.

Knapp 3 MW Engpassleistung
Als Herzstücke des Kraftwerks lieferte die Small Hydro Division von VOITH Hydro zwei horizontal durchströmte Kaplan-Turbinen in Pit-Ausführung. Beide Maschinen wurden auf eine Ausbauwassermenge von je 34,5 m³/s ausgelegt und nutzen eine Nettofallhöhe von 4,7 m. Unter Volllast schaffen die Turbinen eine Engpassleistung von jeweils 1.471 kW. Zur Verbindung zwischen den mit 157,59 U/min drehenden Turbinen und den beiden vertikalachsigen Synchron-Generatoren kommen zwei Kegelradgetriebe mit einem Übersetzungsverhältnis von 1:4,75 zum Einsatz. Die Getriebe leiten die Rotations­bewegung der 4-flügeligen Laufräder um 90° an die für 750 U/min Nenndrehzahl ausgelegten Generatoren weiter. Für optimale ­Betriebstemperaturen der wassergekühlten Energiewandler sorgen im Unterwasserbereich platzierte Wärmetauscher. Die ebenfalls von VOITH gelieferten Generatoren wurden auf eine Spannung von jeweils 690 V und eine Nennscheinleistung von 1.950 kVA ausgelegt. Die erzeugte Energie wird mittels Transformatoren auf 20 kV umgewandelt und in ein regionales Mittelspannungsnetz eingespeist.

Automatisierungsexperte SCHUBERT für Leittechnik zuständig
Ebenfalls im VOITH-Leistungsumfang enthalten war die Umsetzung der Kraftwerks-Steuerung. Realisiert wurde die gesamte Leittechnik durch den Konsortialpartner SCHUBERT Elektroanlagen GmbH aus Niederösterreich. Den Automatisierungsspezialisten eilt branchenweit ein hervorragender Ruf voraus, den sich das Unternehmen mit Sitz in Ober-Grafendorf durch eine Vielzahl erfolgreicher Projekte im In- und Ausland erarbeitet hat. „Der Auftrag umfasste prinzipiell das leittechnische Equipment der Anlage. Dazu zählten die Steuerung und Überwachung der kompletten Kraftwerksanlage inklusive Alarmierungssystem. Die allgemeine Steuerung beinhaltet die Gruppenregelung und sämtliche Kommunikationsschnittstellen (Stahlwasserbau, Netzbetreiber,  Direktvermarkter und TSW). Weiter waren wir für die Steuerung der Maschinensätze zuständig. Dazu gehören die Anfahr- und Stillsetzautomatik der Turbinen, die Drehzahlregelung, die Wasserweitergabe im Stillstand, die Hilfsbetriebesteuerung, der Generatorschutz und die Synchronisierung sowie die Überwachungs- und Störungsauswertung“, erklärt SCHUBERT-Projektleiter Markus König. Kom­plettiert wurde der SCHUBERT-Lieferumfang durch zwei Generator-Ausleitungszel­len mit 690 V, vier zoom- und schwenkbare Vi­deo­­­kameras inklusive Netzwerkvideo-Re­corder­­system und die Voice over IP-Telefonie-­ und Gegensprechanlage, welche auch für die­ Zutrittsüberwachung der Anlage eingesetzt wird.

Pegelreglung erfordert Sonderlösung
Der SCHUBERT-Techniker erläutert, dass der Wasserpegel im Stausee nun primär vom neuen Kraftwerk geregelt werde. Vor dem Bau des Wasserkraftwerks geschah dies über die beiden Wehrklappen der Talsperre ohne Automatisierung. „Die Umsetzung der Pegelregelung bei einem Stausee mit einer Fläche von rund 6,3 km² stellte für uns eine der größten Projektherausforderungen dar und erforderte die Entwicklung einer Speziallösung. Vereinfacht gesagt mussten sowohl der Zufluss in den Stausee als auch die Störgröße von Niederschlägen berücksichtigt werden. Ebenfalls wirken die Stellung der Wehrklappen und Eingriffe von Netzbetreiber und Direktvermarkter als Störgröße auf den Stauzielregler. Grundsätzlich darf der Wasserstand im Stausee innerhalb von 24 Stunden nur um maximal 20 cm nach unten schwanken, da ansonsten die Gefahr von Ufereinbrüchen droht. Die Durchflussmessung im Zufluss befindet sich ca. 15 km vom Mulde­stausee entfernt. Bis das Wasser von der Messstelle in den See eintritt, dauert es ca. vier bis fünf Stunden. Das bedeutet, dass der Durchfluss des Gruppenreglers diesen Zeitunterschied berücksichtigen muss.“

Umfangreiche Steuerungsmöglichkeiten
Die Überwachung und Steuerung des Kraftwerks aus der Ferne erfolgt in der Leitwarte im rund 120 km westlich gelegenen Unternehmenssitz in Blankenburg. Dazu wurde die Kraftwerks-Steuerung von SCHUBERT an das übergeordnete Leitsystem angeschlossen. Darüber hinaus kommuniziert das Leitsystem über das IEC 60870-5-104 Protokoll mit dem Direktvermarkter und dem Netzbetreiber, erklärt Markus König: „Die in diesem Projekt anzuwendende technische Anschlussregel Mittelspannung VDE-AR-N 4110­ verpflichtet Betreiber von Erzeugungsanlagen, die Strom in Mittelspannungsnetze einspeisen, dass ihre Anlagen bestimmte Anforderungen erfüllen müssen. Beispielsweise muss der Netzbetreiber in der Lage sein, die Leistung eines Kraftwerks eigenmächtig zu regeln bzw. zu drosseln, wenn im Stromnetz Überspannungen oder zu hohe Frequenzen auftreten. Der Direktvermarkter des erzeugten Stroms hat ebenfalls Zugriff auf die Anlagensteuerung und kann die Leistung des Kraftwerks an die jeweiligen Marktpreise anpassen.“

Investition in die Zukunft
Der Ausbruch der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 sollte sich, wie eingangs erwähnt, auch auf die Fertigstellung des Kraftwerks am Muldestausee auswirken. Aufgrund der Aufenthaltsbeschränkungen während des landesweiten „Lockdowns“ durften die Inbetriebnahmetechniker von VOITH und SCHUBERT nur jeweils fünf Tage am Stück in Deutschland bleiben. Danach mussten sie wieder zurück nach Österreich und sich einem Corona-Test unterziehen, um wieder zu­rück nach Deutschland reisen zu dürfen. Dieses zeitraubende Prozedere, das die Inbetriebnahmephase der Anlage in die Länge zog, sollte sich mehrere Male wiederholen. Trotz dieser schwierigen Begleitumstände zieht der SCHUBERT-Projektleiter ein durch­wegs po­si­tives Fazit über das Projekt: „Dank des On­line-­Service-Zugangs konnten die finalen leit­techn­ischen Optimierungen und Einstellun­gen über die Fernwartung durchgeführt werden. Es war ein spannendes Projekt mit relativ vielen Schnittstellen, bei dem wir wieder einiges dazu gelernt haben.“ Die erste Netzzuschaltung des Kraftwerks Muldestausee erfolgte am 22. Januar 2021, die endgültige Fertigstellung ist für das dritte Quartal 2021 geplant. Der Nachweis zur Funktionalität der Fischauf- und -abstiegsanlage wird im kommenden Jahr erbracht. Im Regeljahr rechnen die Betreiber mit einer Erzeu­gungskapazität von ca. 13,6 GWh Öko­strom. Umgerechnet wird damit der Jah­res­strom­bedarf von rund 4.000 durch­schnit­t­lichen Haushalten mit nachhaltig er­zeugter Energie abgedeckt. „Nach einem halben Jahr Betriebserfahrung lässt sich sagen, dass das Kraftwerk zuverlässig und stabil läuft. Wenn die Feinoptimierungen abgeschlossen sind, haben wir eine wirklich schöne Anlage. Ich bin überzeugt, dass das Projekt eine gute Investition in die Zukunft darstellt“, so TSW­Geschäftsführer Mario Gödicke. Er dankt neben den bereits genannten Firmen auch allen Beteiligten, besonders Alltec (Los Elektrotechnik), SWB Beeskow (Los Stahlwasserbau) und den Ingenieurbüros RMD und Kubens.

 

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